"Die Linke muss kämpfen wollen, um zu gewinnen"

Analyse
Author
Peter Mertens
ptb.be

Am 3. November 2023 hatte Peter Mertens das Privileg, bei der Gründung von Jacobin Nederland im Pakhuis De Zwijger in Amsterdam eine Grundsatzrede zu halten. Hier ist der vollständige Text seiner Rede.

Jacobin wurde als offen sozialistisches Magazin gegründet. Und es erscheint genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Welt von heute ist ein Pulverfass kurz vor der Explosion und sie braucht mehr denn je einen unverkrampften Sozialismus. Sozialismus, wohl gemerkt, und nicht Kapitalismus!

Letzten Monat war ich nach Johannesburg, Südafrika, eingeladen, um auf einer Konferenz unter dem Titel "Dilemmas of Humanity" über mein neues Buch zu sprechen.

An dieser Konferenz nahmen vor allem Organisationen aus dem globalen Süden teil: die Bewegung der landlosen Bauern in Brasilien (MST), die Metallarbeitergewerkschaft in Südafrika (NUMSA), die Frauenbewegungen in Indien usw. All diese Bewegungen und Organisationen haben enorm viel Erfahrung im Kampf, aber auch mit Unterdrückung und Verfolgung.

Ich war einer der wenigen europäischen Gäste. Und ich wurde immer und immer wieder von demselben Eindruck berührt. Empathie. "Sie kommen aus Europa? Vraiment? Das ist bestimmt nicht einfach! Als ich sie verdutzt ansah, präzisierten sie: "Mit der Rückkehr der extremen Rechten."

Das haben mir Menschen gesagt, die von der Regierung Modi in Indien, von Bolsonaro in Brasilien oder vom derzeitigen Regime in Tunesien verfolgt werden. "Ich glaube nicht, dass das Problem in Europa vor allem mit der extremen Rechten zu tun hat", antwortete ich. "Für mich ist das erste Problem das mangelnde Selbstvertrauen der Linken".

Ich glaube, dass es in Europa zu viele linke Versammlungen gibt, auf denen kollektive Depressionen organisiert werden. Wo man sich auf den Ernst der Lage konzentriert. Die Schwäche der linken Kräfte. Die Stärke des Gegners. Unseren Mangel an Konsens untereinander. 

Das ist nicht so mein Ding. Ich habe da nie mitgemacht. Ich glaube, dass in Europa viel in Bewegung ist, und dass es ein enormes Potenzial gibt. Ich denke, wir befinden uns auf einem brodelnden Kontinent, wo es in jede beliebige Richtung losgehen kann, auch in die richtige. 

Ich denke, dass die gewerkschaftlichen und linken Kräfte etwas mehr Selbstvertrauen haben könnten. Und dass sie keine Angst haben sollten, noch klein und im Wachstum begriffen zu sein. Was spielt das für eine Rolle? Was klein ist, kann groß werden. Und was groß ist, kann wieder klein werden.

Ich komme aus einer Partei, die lange Zeit als Einzelkämpfer durch die Wüste gezogen ist. Das ist ein Vorteil. Zumindest wenn Sie wissen, wohin Sie gehen wollen. Sich auf das Abenteuer einzulassen, auf den Zug des Erfolgs aufzuspringen, ist einfach. Es ist viel schwieriger, das Kleine wahrzunehmen und den Keim dessen zu sehen, was Potenzial hat. Es geht darum, das Potenzial zu sehen. Es geht darum, den Diamanten unter der Kohle und dem Staub zu sehen. Dies gilt gleichermaßen für Menschen wie für Organisationen oder Bewegungen in der Gesellschaft.

"Eine Welt zu gewinnen", lautet der stolze Titel der Nullnummer von Jacobin. Das ist gut gesagt. Das ist Ehrgeiz und Selbstvertrauen. Die Linke braucht beides: Ehrgeiz und Selbstvertrauen. Niemand will sich mit Verlierern verbünden. Die Menschen wollen Teil der Welle der Geschichte sein, aber mehr noch, sie wollen und können diese Wellen selbst herbeiführen. Nicht, um ein Komma in einem Text zu verschieben, sondern um die Welt zu verändern. Um nach außen zu strahlen. Die Linke muss um den Sieg kämpfen wollen und wirklich gewinnen wollen. Wenn Sie zögern, zweifeln oder extrem relativieren, spüren die Menschen das. Es geht darum, kämpfen zu wollen, um zu gewinnen. Kleine Siege erringen, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, mit der Gewerkschaft. Und größere Siege in größerem Maßstab. 

Natürlich kann, wie Bertolt Brecht sagte, "wer kämpft, verlieren". Aber, so fügte er hinzu, "wer nicht kämpft, hat schon verloren". Jede Situation ist anders und Sie können sich nicht einfach mit Kopieren-Einfügen von Erfahrungen begnügen. 

Ich für meinen Teil kann mich nur auf die Erfahrungen stützen, die wir in den letzten Jahren gesammelt haben. Und dafür habe ich Ihnen vier Wörter mitgebracht: Prinzipien; Flexibilität; Klasse; Internationalismus. Ich hätte es vorgezogen, wenn sie sich gereimt hätten oder eine gut klingende Abkürzung oder ein Akronym oder etwas Ähnliches bildeten, aber wir müssen ohne so etwas auskommen. Es werden nur diese vier Worte sein: Prinzipien; Flexibilität; Klasse; Internationalismus.

1. Feste Grundsätze

Unsere Partei, die PVDA-PTB, hat sich in den letzten zehn Jahren stark entwickelt. Seit dem Kongress der Erneuerung (2008) ist sie von 2800 auf 25 000 Mitglieder gewachsen. Wir bekamen 8 Prozent der Stimmen auf Landesebene und haben 12 Sitze im Föderalen Parlament und einen Sitz im Europaparlament. Und Umfragen zufolge werden wir unsere Sitzzahl im nächsten Jahr verdoppeln. Natürlich handelt es sich hierbei nur um Umfragen.

Unsere erste Säule sind feste Prinzipien. Eine Reihe von Kräften hätte gerne gesehen, dass wir auf die Nägel des Kapitalismus und genehmigter Debatte treten. Wir lehnten freundlich ab. 

Ein Körper braucht bewegliche Arme und Beine, aber auch eine starke Wirbelsäule. Ohne dieses Rückgrat wird die Beweglichkeit zu der einer Stoffpuppe.

Wir haben ein emanzipatorisches Menschenbild, einen marxistischen Analyserahmen und eine sozialistische Weltanschauung. Das ist unser Rückgrat. Wir sind nicht für den Kapitalismus. Historisch gesehen war der Kapitalismus ein Motor des Fortschritts, aber er ist an seine eigenen Grenzen gestoßen und stellt nun eine Bremse für jeglichen grundlegenden sozialen, demokratischen und ökologischen Fortschritt dar. Wir sind für den Sozialismus, eine Gesellschaft, die ihre beiden Quellen des Wohlstands schützt: die Arbeit und die Natur, anstatt sie auszubeuten und zu plündern. 

Es ist wichtig, von der Stärke der eigenen Überzeugung auszugehen. Unser Planet wird von der Klimaverschlechterung, der Nahrungsmittelkrise, der Schuldenkrise, wirtschaftlichen und militärischen Kriegen, Ausbeutung und globalen Ungleichgewichten erschüttert. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, eine Lösung für die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, anzubieten. 

Sozialismus bedeutet, dass wir die unlösbaren Übel des Kapitalismus wie Hunger, Analphabetismus, Obdachlosigkeit, Rassismus und Krieg endlich überwinden können. Sozialismus bedeutet, dafür zu sorgen, dass die Mehrheit der Menschheit Zugang zu grundlegenden Dingen hat: ein Dach über dem Kopf, eine nahrhafte Mahlzeit, Bildung und Gesundheitsfürsorge sowie eine gut bezahlte Arbeit. Heute kollidiert all dies mit den Eigentumsverhältnissen und der Macht des Kapitalismus. Um den Sozialismus zu verwirklichen, muss eine Gegenmacht aufgebaut, das kollektive Narrativ neu gestaltet und eine neue Kultur des Kampfes entwickelt werden.

Feste Prinzipien zu haben, ist eine Frage der Orientierung: wohin wollen wir gehen? Man muss Maßnahmen ergreifen, um die eigene Organisation zu schützen, denn wer die vorherrschende Kultur des <Wir bleiben unter uns> bedroht, wird schnell zwischen Zuckerbrot und Peitsche des Establishments aufgerieben. 

Zuckerbrot, wie die zahlreichen Mechanismen zur Zähmung der Rebellen. Parlamentarier*innen erhalten unverhältnismäßige Bezüge, wodurch sie von den Machtstrukturen abhängig werden. Ihre Bereitschaft zu Kritik oder gar Veränderungen an eben diesen Strukturen sinkt daher. Bei diesem Druck verkriecht sich manch einer gern in der parlamentarischen Blase, zwischen Akademiker*innen, schick, unter seines Gleichen, fern ab von der realen Welt. 

Wie geht man damit um? Wir gehen von dem Grundsatz aus, dass nur ein Prozess aus gesellschaftlichem Handeln, Organisation und Aufklärung die Kräfteverhältnisse vor Ort verändern kann. Unsere Führungskräfte und Abgeordneten müssen alle mindestens die Hälfte ihrer Zeit vor Ort in der realen Welt verbringen. Die parlamentarische Arbeit ordnet sich dem sozialen Kampf unter und nicht umgekehrt. Unsere Führungskräfte und Abgeordneten leben alle von einem durchschnittlichen Arbeiterlohn und führen den Überschuss aus ihren Bezügen an die Partei ab. Wir formulieren es so: „Man muss so leben, wie man denkt, sonst passiert es schnell, dass man denkt, wie man lebt.“ 

2. Flexibilität

Dies führt mich direkt zu unserem zweiten Prinzip: Flexibilität unter Beweis stellen. Denn Prinzipien zu haben ist zwar wesentlich, reicht aber nicht aus. Wenn man sich damit begnügt, an Prinzipien festzuhalten, wird man starr. Es reicht nicht, Recht zu haben, man muss auch überzeugen und Dinge verändern. Das macht einen großen Unterschied.

So konnten wir feststellen, dass sehr linke Strömungen (was früher als "Linksradikalismus" bezeichnet wurde) dazu neigen, sich in ihrer eigenen Blase zu verschanzen, kein politisches Gespür für die Situation haben und aus ihren bequemen Büros heraus ein paar kostenlose Sprüche ablassen. Für diese Leute sind wir nie links genug. Sie verbringen ihre Zeit damit, uns Ratschläge zu erteilen. 

Aber auf Druck von rechts reagiert man nicht mit linksextremer Rhetorik. Unsere Antworten ziehen wir aus Debatten, Argumentationen und Bildung. Wir überzeugen, indem wir geduldig zuhören und einen soliden Klassenstandpunkt vertreten.

Man muss Strategie und Taktik auseinanderhalten. Wir denken über eine Strategie nach, um uns darüber klar zu werden, wo wir hinwollen, was langfristig unsere Ziele sind, wie wir sie erreichen wollen und wer unsere Verbündeten und unsere Gegner sind.

Wir entwickeln eine Taktik, um den Weg und die Methoden zu finden, die am besten geeignet sind, um in diese Richtung voranzukommen. Und dazu gehört sicher nicht, die Menschen mit „großen Wahrheiten“ oder mit unserem „Komplettprogramm“ zu erschlagen. Der Weg zum Gipfel des Berges ist kein geradliniger Anstieg. Dieser Weg ist oft kurvig und windet sich in Haarnadelkurven. Manchmal muss man sogar umkehren, um beim Aufstieg voran zu kommen. Diese Windungen sind Teil der Taktik, solange wir unseren Horizont nie aus den Augen verlieren.

Die Linke, so denken wir, sollte Meister sein in der Kunst, Herz und Geist der Menschen zu bewegen. Geist und Seele. Das ist der Fall, wenn die Leute ihre eigenen Erfahrungen machen, wenn ihnen etwas am Herzen liegt, wenn sie sich selber auf den Weg machen, sich organisieren und kämpfen. Es ist daher wesentlich, das existierende Kräfteverhältnis und die Bewusstseinslage zu berücksichtigen.

3. Die Klasse

Das dritte Wort, das ich mitgebracht habe, ist das Wort "Klasse".

Immer mehr Bewegungen vergessen die wirtschaftliche Analyse. Sie sprechen nicht mehr von der „Arbeiterklasse“, sondern von der „Mitte“ und der angeblichen „Mittelschicht“. Es geht nicht mehr um eine Klassenanalyse, um Produktion, Werkstätten und Held*innen der Coronakrise. 

Die Klassenunterschiede im vorherrschenden Diskurs wurden abgeräumt und Tor und Tür geöffnet für identitäre Debatten. Widersprüchlichkeiten werden aufgebauscht, reale wie ausgedachte, und bevor man es merkt, gehen die Menschen aus dem Volk aufeinander los.

Wir denken, dass es Zeit ist, wieder einen Klassenstandpunkt einzunehmen. Es wäre absurd, die working class den Trumpisten, Bolsonaristen, Voxianern oder ähnlichen Sirenen zu überlassen.

Ja, wir bekämpfen Rassismus. Ja, wir bekämpfen Sexismus. Ja, wir benennen jede Form von Ausgrenzung. Aber wir tun dies immer mit dem Blick darauf, die Schlagkraft und die Einheit der Arbeiterklasse zu stärken. Eine gespaltene Arbeiterklasse kann nicht gewinnen. Gestern nicht und auch nicht heute.

Tatsache ist, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Der Kapitalismus schafft Spaltungen je nach der Rolle des Einzelnen in der Produktion, je nachdem, ob er seine Arbeit verkaufen muss oder von den Früchten der Arbeit anderer leben kann.

Wie hoch sind Ihre Chancen, Ihren Kindern eine höhere Schulbildung bezahlen zu können, wenn Sie aus einer Arbeiterfamilie stammen? 
Wie groß sind Ihre Möglichkeiten, gesunde Lebensbedingungen zu haben, wenn Sie in 10- oder 12-Stunden-Schichten Tag und Nacht arbeiten?

In Belgien ist die Lebenszeit von Arbeitern bei voller Gesundheit acht Jahre kürzer als die von Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss. Mehr als acht Jahre auseinander. 
Wenn Sie der Sohn eines Bankiers oder Richters sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie im Gefängnis landen, viel geringer als wenn Sie in einer Arbeiterfamilie aufwachsen.

Dies ist in jeder Klassengesellschaft der Fall. Sie wissen das alles.

Aber ich wiederhole es hier, weil man immer wieder hört, dass wir nicht in einer Klassengesellschaft leben, dass wir in einem postindustriellen Zeitalter leben und bla bla bla, weil die Leute, die uns das sagen, selbst in einem solchen Zeitalter leben.

Wer baut die Schiffe, die Häuser und alles, was sich in diesem Raum befindet, von den Stühlen bis zu den Mikrofonen? Wer baut Mobiltelefone, Elektroautos und Halbleiter zusammen? Wer baut Lithium ab? 

In Wirklichkeit war unsere Gesellschaft noch nie so industrialisiert wie heute. Als Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest schrieben, stellte die Arbeiterklasse selbst in Europa nur eine winzige Minderheit dar. 

1848 arbeitete weniger als 1 % der Weltbevölkerung in der Industrie. Im Jahr 1950 war diese Zahl auf 15% gestiegen und liegt heute bei etwa 33%. Jeder dritte Mensch auf der Welt arbeitet in der weiterverarbeitenden Industrie oder in damit verbundenen Branchen.

Die Welt ist stärker industrialisiert als je zuvor und die Produktionsketten sind global organisiert. Wie viele Menschen in wie vielen Ländern haben an der Herstellung dieses Computers gearbeitet? Das ist enorm. Die Arbeit war noch nie so gesellschaftlich wie heute.

Erinnern Sie sich noch an den Vorfall mit der Ever Given, dem Riesenschiff, das im Suezkanal stecken geblieben war? Sie transportierte 224.000 Tonnen Fracht von Indien nach Amsterdam. Innerhalb weniger Tage steckten 400 Containerschiffe voller Elektronik, Zement, Wasser und Öl im größten Seeverkehrsstau aller Zeiten fest. Fabriken mussten vorübergehend ihre Tore schließen, weil sie auf die im Suezkanal festsitzenden Teile warteten. Alles ist miteinander verbunden; die globale Produktionskette ist eine Realität.

Heute ist die Arbeiterklasse größer als je zuvor, und die Produktion ist mehr denn je international organisiert. Und der gegenwärtig stattfindende Klassenkampf ist global.

Letztes Jahr unterhielt ich mich mit Kath, einer Krankenschwester aus London. Sie hatte noch nie in ihrem Leben gestreikt, denn, wie sie sagte, "es lag nicht in ihrer Natur". Doch im vergangenen Jahr traten sie und Tausende ihrer Kolleginnen und Kollegen in Krankenhäusern in ganz Großbritannien zum ersten Mal in den Streik. Weil es einfach nicht mehr zu schaffen war. Einige Krankenschwestern hatten am Ende des Monats nicht einmal mehr genug Geld für ein Busticket, um zur Arbeit zu fahren.

Das ist heute in Europa Wirklichkeit. Krankenschwestern, Eisenbahner, Lehrer und Busfahrer streikten und machten daraus in Großbritannien den Sommer der Unzufriedenheit, der sich in einen Winter der Unzufriedenheit und dann noch einmal in einen Sommer der Wut fortsetzte. In den letzten zwei Jahren gab es im Vereinigten Königreich mehr soziale Aktionen und Bewegungen im Industriesektor als im gesamten Jahrzehnt der 1970er Jahre, das immerhin von den aufsehenerregenden Mobilisierungen der Bergarbeiter geprägt war. Damals gab es ein linkes Narrativ, das von stolzen, kämpfenden Bergleuten handelte. Heute brauchen wir wieder eine solche Erzählung und nicht die ewigen Klagen über die Allmacht des Kapitals.

Das Beispiel Frankreichs ist ebenso stark. Im März 2023 gingen mehr als 3,4 Millionen Menschen auf die Straße, um faire Renten und die Beibehaltung des Renteneintrittsalters von 62 Jahren zu fordern. Diese Bewegung dauerte sechs Monate und umfasste 14 nationale Protesttage mit einer beeindruckenden Beteiligung vieler junger Menschen, Studenten und Schüler. Seit 1968 waren in Frankreich noch nie so viele Menschen auf die Straße gegangen. Aber was wird uns von diesem Klassenkampf berichtet?

Wir sollten also nicht sagen, dass die Arbeiterklasse in Europa schläft. Wir sollten uns lieber fragen, warum wir nicht häufiger von diesem Kampf zu hören bekommen. Wir müssen den Kampf nicht nur führen, sondern auch darüber berichten und ihn kulturell unterstützen. Wir müssen die Berichte der Metallarbeiter in Südafrika, der Bauern in Indien oder der Bauern- und Volksbewegungen in Brasilien weitergeben. Auch das tut Jacobin, meiner Meinung nach.

Wir alle bekämpfen die gleichen Feinde, die gleichen multinationalen Konzerne, die international operieren und die Arbeiter spalten. Es ist dasselbe Cargills, das für die Abholzung des Amazonas verantwortlich ist und Kinder in den Fleischfabriken der USA arbeiten lässt.  Die Feinde sind dieselben, das kapitalistische System ist dasselbe und unser Kampf für den Sozialismus ist derselbe.

4. Internationalismus

Das bringt mich zu meinem letzten Wort, dem "Internationalismus". Unmöglich, heute darüber zu sprechen, ohne Palästina zu erwähnen.

Heute ist die ganze Welt Zeuge des sinnlosen Krieges Israels gegen Palästina. Der Blick der Welt darauf wird sich in den nächsten Jahrzehnten ebenfalls ändern. 

Ich habe gerade ein neues Buch mit dem Titel "Meuterei: Wie unsere Welt kippt" geschrieben. Es handelt von den sich rasant entwickelnden Veränderungen in der Welt. Ich gehe darin unter anderem auf die Momente des Umbruchs ein, die sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 ereignet haben. In dieser Epoche wurde die Hegemonie der USA deutlich. Eine unipolare Welt, um ein kompliziertes Wort zu verwenden, in der Washington für Stabilität und Frieden sorgen würde. Aber das war nicht der Fall.

Mit der ethnischen Säuberung, die Israel heute vor den Augen der Kameras aus aller Welt gegen die Palästinenser veranstaltet, befinden wir uns an einer Bruchstelle. Noch eine.

Der erste Moment, in dem es zu einem Bruch kam, war der illegale Krieg gegen den Irak im Jahr 2003. Dieser illegale Krieg hat die Glaubwürdigkeit der USA als sogenannter Führer der Welt endgültig untergraben. Auf diesen ersten Moment des Bruchs folgten die illegalen Interventionen in Libyen und Afghanistan. Die völlige Destabilisierung des Nahen Ostens hat die Welt unsicherer denn je gemacht und den Nährboden gebildet, aus dem der extremistische Dschihad des Islamischen Staates hervorgehen konnte.

Die Finanzkrise von 2008 war ein zweiter wichtiger Moment des Umbruchs. Die Wall-Street-Krise hat die westlichen Finanzinstitutionen zu Recht in Misskredit gebracht. Daraus wurde eine zweite Bruchstelle. Als Reaktion auf die Bankenkrise gründete der andere Teil der Welt die BRICS-Staaten, d. h. eine Kooperation zwischen Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Anfang diesen Jahres übertrafen die Volkswirtschaften dieser fünf Länder zum ersten Mal in der Geschichte die der sieben reichsten Länder der Welt, der G7. Es handelt sich also um einen tiefgreifenden Wandel, zu dem insbesondere in der Finanzkrise von 2008 die Saat gelegt wurde.

Der Krieg in der Ukraine markiert einen dritten, tiefgreifenden Umbruch. Und ich rede nicht von der Verurteilung der russischen Invasion, einem Missbrauch internationalen Rechts und einer Missachtung der Souveränität der Ukraine. In den Ländern des Südens wissen die Menschen nur zu gut, wie wichtig Souveränität ist.

Ich spreche von den Sanktionen, die die dritte Bruchstelle markieren. Wirtschaftssanktionen, Embargo, Ausschluss vom Interbankensystem SWIFT und Einfrieren der Zentralbank-Reserven. Jeder weiß, dass all diese Sanktionen morgen gegen andere Länder eingesetzt werden können. Dies ist übrigens jahrelang in verschiedenen Ländern der Fall gewesen. Man denke dabei etwa an das kriminelle Embargo und die Blockade gegen Kuba.

Der Krieg gegen den Irak 2003, die Finanzkrise 2008, die Pandemie 2020 und der Krieg in der Ukraine 2022, ... all diese Momente des Umbruchs haben unsere Welt tiefgreifend verändert. 

Auch heute befinden wir uns wieder mitten in einer Umbruchphase. Gegen das palästinensische Volk findet eine ethnische Säuberung statt. Millionen von Palästinensern werden aus Gaza vertrieben, es ist eine zweite Nakba.

Und die ganze Welt schaut zu, wer sich da wirklich auf die Seite des Lebens, auf die Seite der Würde und auf die Seite der Hoffnung stellt.
Die ganze Welt schaut zu, wer sein Möglichstes tut, um die Bomben zu stoppen, die ethnische Säuberung zu verhindern und die Blockade des Gazastreifens aufzuheben. 

Alle haben die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, nach Israel reisen sehen. Dieser Besuch war in jeder Hinsicht ein Skandal. Sie kamen in Israel an, als Netanjahu die illegale Umsiedlung von über einer Million Palästinensern anordnete. Weder von der Leyen noch Metsola haben sich dazu geäußert. Das bedeutet, dass sie Israel de facto erlaubt haben, seine Kriegsverbrechen fortzusetzen.

So kann es nicht weitergehen. Wenn die Europäische Union und die europäischen Länder nicht im schwarzen Loch der Geschichte enden wollen, müssen sie ab sofort ihre Verantwortung übernehmen. Die europäischen Länder müssen unverzüglich zu einem sofortigen Waffenstillstand aufrufen und dafür sorgen, dass die ethnische Säuberung der Palästinenser aufhört. Die ganze Welt schaut auf uns.

Es ist Zeit zu handeln, statt weiter zu diskutieren. Der israelische Präsident Netanjahu soll vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden. Die Staaten können diesen Aufruf unterstützen. Es ist durchaus möglich, Kriegsverbrechen in Palästina zu untersuchen. Palästina ist seit 2015 Vertragspartner zur Unterstützung des Internationalen Strafgerichtshofs. Wenn Putin vor dieses Gericht gestellt werden konnte, warum sollte Netanjahu dann nicht heute vor dieses Gericht gestellt werden können?

Wir sind heute bei der 11en Sanktionsrunde gegen Russland angelangt. Trotz der 104 UN-Resolutionen wurden bisher keine Sanktionen gegen Israel verhängt. Das klingt unglaublich. Darüber hinaus gewährt die Europäische Union Israel weiterhin wirtschaftliche Vorteile. Israel zahlt zum Beispiel keine Steuern auf Waren, die es nach Europa exportiert. Israel erhält außerdem vollen Zugang zu Technologie, Forschung und Entwicklung in der Union. All dies ist im europäisch-israelischen Assoziierungsabkommen enthalten. Europa muss und kann dieses Abkommen sofort aussetzen.

Außerdem muss sofort ein Militärembargo gegen Israel verhängt werden. Nach den EU-Vorschriften dürfen europäische Länder keine Waffen exportieren, wenn ein eindeutiges Risiko besteht, dass die Militärtechnologie oder -ausrüstung für schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht eingesetzt wird. Dies ist heute eindeutig der Fall. Daher muss dieses Embargo verabschiedet werden und vor allem muss es ab sofort in Kraft treten. Das fordern die palästinensischen Gewerkschaften.

Das haben die Transportgewerkschaften in Belgien beschlossen, indem sie sich weigern, Waffen, die für Israel bestimmt sind, ein- oder auszuladen. Es wird kein Gegenstand militärischer Ausrüstung mehr nach Israel verschickt. Das ist ein Beispiel, dem man folgen sollte.

Inzwischen sind in Gaza bereits 10 000 Menschen getötet worden, darunter 4 000 Kinder. Europa muss seine Doppelmoral im Völkerrecht aufgeben, nach der es die Souveränität der Ukraine verteidigt, aber nicht die Souveränität Palästinas, nach der es russische Kriegsverbrechen bestraft, aber Israels ethnische Säuberungen akzeptiert. Wir können und müssen fordern, dass die Regierungen Belgiens, der Niederlande, Frankreichs und Deutschlands ihre Botschafter aus Israel zurückrufen. Wie es die Regierungen Kolumbiens und Boliviens beschlossen haben. 

Es ist an der Zeit, dass Europa seine Verantwortung übernimmt und sich auf die Seite des Waffenstillstands, des Friedens und des Völkerrechts stellt.

Das ist entscheidend. Nicht nur für die Länder des Südens, sondern auch für Europa selbst. Welchen Platz wird Europa im 21 en Jahrhundert einnehmen? Das ist die ganze Frage.

Europa steht vor einer Wahl, und die Position, die es einnimmt, wird seine Rolle in der Geschichte entscheiden.

In dieser Hinsicht haben wir eine Verantwortung und Macht. Die Kraft der Bewegung von unten, sei es die halbe Million Demonstranten, die sich letzte Woche in London versammelten, oder der Aufruf der belgischen Gewerkschaften zum Waffenboykott. Wir können und müssen Druck von unten ausüben. Das haben wir damals auch getan, um das Apartheidregime in Südafrika zu stürzen. 

Die Solidaritätsbewegung mit dem palästinensischen Volk ist Teil einer globalen Bewegung. Eine Bewegung im Süden wie im Norden. Wenn sich diese Bewegungen zusammen schließen können, dann werden wir in der Lage sein, die Welt in die demokratische, ökologische und soziale Richtung zu lenken, die der Planet so dringend braucht. Die des Sozialismus.

Ich danke euch. 

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