Wenn das Europäische Parlament eine bedrohliche Resolution verabschiedet, mit der die Geschichte neu geschrieben wird
Müssen wir bald Straßennamen in ganz Europa ändern, wie z.B. die Karl-Marx-Allee in Berlin, den Verkauf von Che-Guevara-T-Shirts verbieten, antikapitalistische Reden zensie-ren oder Aspekte von Schulcurricula untersagen, die gegenüber den bisherigen kommu-nistischen Systemen als zu positiv angesehen werden? Das ist es jedenfalls, wozu uns eine verhängnisvolle Resolution des Europäischen Parlaments auffordert.
Diese Resolution wurde am 19. September mit einer Mehrheit von rechtsextremen, konservativen, liberalen und einer großen Zahl von europäischen Sozialdemokraten und Grünen angenommen. Nach diesem Text sollten die Mitgliedstaaten "die tragische Vergangenheit Europas", insbesondere des Zweiten Weltkriegs, "die moralische und politische Erkenntnis" als Anlass nehmen, um die heutigen Erscheinungsformen des Faschismus und Kommunismus zu verurteilen, welche in der gesamten Resolution miteinander vermengt sind.
Eine sorgfältige Lektüre dieser Resolution "über die Bedeutung des europäischen Gedächtnisses für die Zukunft Europas" verdeutlicht, dass es sich in der Tat um nichts anderes, als eine politische Neufassung der europäischen Geschichte handelt, mit dem doppelten Effekt, den Aufstieg des Faschismus zu bagatellisieren und radikale linke Kräfte zu kriminalisieren.
Eine Resolution, die die Geschichte neu schreibt
Was von Anfang an auffällt, ist, dass die Resolution grobe historische Fehler miteinander kombiniert und die Geschichte neu schreibt. In der Entschließung des Europäischen Parlaments wird der Zweite Weltkrieg als "unmittelbare Folge" des Deutsch-Sowjetischen Vertrages von 1939 bezeichnet, des Nichtangriffspakts, der den deutschen Überfall in die UdSSR um zwei Jahre hinauszögerte.
Indem der Ursprung des Zweiten Weltkriegs einzig auf den "Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt" reduziert wird, werden sowohl Nazi-Deutschland als auch die UdSSR als Verantwortliche für diesen Weltkonflikt betrachtet und auf eine Stufe gestellt. Bis auf wenige, sehr seltene Ausnahmen hat jedoch kein seriöser Historiker jemals bezweifelt, dass die Verursacher des zweiten Weltkriegs Nazi-Deutschland, das faschistische Italien und Japan waren. Die Abgeordneten, die den Text unterstützen, widersprechen damit sogar den Schlussfolgerungen des Nürnberger Gerichtshofs.
Darüberhinaus ignoriert die Resolution völlig die Politik der Befriedung und der Versöhnung auch der liberalen herrschenden Klassen gegenüber Nazi-Deutschland. Der Text annulliert die Münchner Abkommen, die vor dem deutsch-sowjetischen Vertrag zwischen Frankreich und Großbritannien mit Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien geschlossen wurden, welche den Nazis die Tschechoslowakei anboten. So wie es keine Hinweise auf den Anschluss gibt, d.h. auf die Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland von 1938, die faktisch von Großbritannien und Frankreich akzeptiert wurde. Die Resolution übergeht auch die Gleichgültigkeit oder das Wohlwollen der Westmächte angesichts des Zusammenbruchs der spanischen Republik in den Jahren 1936-1939. Auch kein Wort über die Anerkennung des faschistischen Regimes Francos durch Großbritannien und Frankreich. Massimiliano Smeriglio, MdEP der Italienischen Demokratischen Partei, der übrigens sehr kritisch gegenüber der UdSSR ist, weist zu Recht darauf hin, dass zu den Ursachen des Zweiten Weltkriegs „die stillschweigende Komplizenschaft gehört, mit der es der liberale Staat zuließ, dass sich Faschismus und Nationalsozialismus gegen die Arbeiterbewegung entwickelten“.
Und schließlich stellt die von der Mehrheit der Abgeordneten angenommene Resolution diejenigen, die das Vernichtungslager Auschwitz errichten ließen, und die Rote Armee, die die Deportierten von dort befreite, auf die gleiche Stufe. Sie löscht die entscheidende Rolle der Kommunisten bei der Befreiung der europäischen Länder vom faschistischen Joch, sowohl innerhalb des Widerstandes in den verschiedenen europäischen Ländern als auch in Bezug auf den unermesslichen Preis, den die UdSSR und die Rote Armee bezahlt haben, aus. Massimiliano Smeriglio erklärt: „Ich habe nicht für diesen Text gestimmt, weil die westlichen Demokratien, unsere eigene, 1945 geborene Demokratien, den Anglo-amerikanischen und den Partisanen-Gruppen sowie der Roten Armee für den endgültigen Sieg danken müssen. Das ist die historische Wahrheit.“ Auch der Verband der italienischen Partisanen, der nach dem Zweiten Weltkrieg von antifaschistischen Widerstandskämpfern gegründet wurde, reagierte: „Unter einer gemeinsamen Ablehnung sind Unterdrückte und Unterdrücker, Opfer und Henker, Invasoren und Befreier versammelt. Und es wurde der schreckliche Tribut, das vergossene Blutes der Völker der Sowjetunion - mehr als 22 Millionen Tote - vergessen und selbst das symbolische Beispiel der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee.“ Indem man versucht, Faschismus und Kommunismus auf die gleiche Stufe zu stellen, beleidigt die Resolution de facto das Vermächtnis und die Kämpfe all jener Kommunisten, Partisanen und Widerstandskämpfer, die ihr Leben im antifaschistischen Kampf in ganz Europa geopfert haben.
Rehabilitierung von Faschismus und Antikommunismus
Die Vermischung von Faschismus und Kommunismus ist auch in seiner Substanz falsch. Die faschistische Ideologie basiert im Wesentlichen auf der Idee einer Hierarchie zwischen Rassen und Kulturen. Die Nazis theoretisierten, dass es "Untermenschen" gebe, nicht-arische "minderwertige Menschen", von denen einige vernichtet werden sollten. Der Faschismus, das waren im Grunde genommen die Stoßtruppen, die zur Verteidigung des Kapitalismus in Krisenzeiten benötigt wurden. Die Unterstützung vieler großer deutscher Unternehmen und Banken war entscheidend für den Machtübernahme der Nazi-Partei. Die kommunistische Ideologie ist genau das Gegenteil: Sie basiert auf den Prinzipien der Gleichheit und der Emanzipation aller. Sie zielt darauf ab, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende zu setzen und ist die Alternative zum Kapitalismus. Also ist sie exakt das Gegenteil.
Die Gleichsetzung des Kommunismus mit dem Faschismus bedeutet daher nicht nur eine Neufassung der Geschichte, sondern auch de facto eine Minimierung sowie eine Art Rehabilitierung der faschistischen Ideologie in einem Moment, in dem der Faschismus in ganz Europa wieder auftaucht und zunehmend von rechten Parteien wieder normalisiert wird.
Der Nobelpreisträger Thomas Mann schrieb in diesem Zusammenhang: „Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische Stufe zu stellen und beide wie totalitär bejegnen, ist bestenfalls Oberflächlichkeit, im schlimmeren Falle ist es – Faschismus. Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag sich als Demokrat vorkommen, in Wahrheit und im Herzensgrund ist er damit bereits Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein, mit vollem Haß aber allein den Kommunismus bekämpfen.“ Es ist kein Zufall, dass die Resolution im Europäischen Parlament vor allem von der Partei von Viktor Orban gefördert wurde und dass die meisten der rechtsextremen europäischen Parteien dafür gestimmt haben.
Der Antikommunismus war schon immer eine Säule aller rechtsextremen Bewegungen, von Hitler in Deutschland bis Pinochet in Chile. Es geht darum, all jene zu bekämpfen, die eine Alternative zum kapitalistischen System vorschlagen. Heute ist es nicht anders. Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro will Brasilien in Lateinamerika zu einem "Bollwerk gegen den Kommunismus" machen. Und der gleiche Hass belebt die N-VA [die Nieuw-Vlaamse Alliante, die größte Partei Belgiens], wenn sie die PTB als "Abfall der Geschichte" bezeichnet, oder die rechtsextremen Gruppen wie Schild en Vrienden, Jagd auf linke Studentenbewegungen wie die Comac (PTB-PVDA-Studenten) machen. Marxisten, Verteidiger der 68er-Bewegung, Gewerkschaften und Befürworter der Gleichstellung, alle sind Feinde und müssen unter Kontrolle gebracht werden.
Eine Resolution über die Vergangenheit, geschrieben für die Gegenwart
Die Resolution schreibt nicht nur die Geschichte um, sondern plädiert auch dafür, alle Spuren der realen Geschichte zu beseitigen und eine neue "shared memory culture" zu schaffen. Es geht nicht nur darum, in der Vergangenheit den Kommunismus in seiner Gesamtheit zu verurteilen, sondern auch darum, mit allen Mitteln heute das Entstehen einer linken Kraft zu verhindern, die das System in Frage stellt.
Um dies zu erreichen, geht die Resolution sogar so weit, die Zerstörung historischer Denkmäler zu fordern, die beispielsweise den Beitrag der Roten Armee zum Sieg gegen den Faschismus würdigen, den Geschichtsunterricht neu zu schreiben, um Aspekte zu entfernen, die für die ehemaligen kommunistischen Systeme zu positiv wären, die Straßen umzubenennen, den Verkauf von Objekten mit kommunistischen Symbolen zu verbieten...
Diese Resolution enthält noch ein weiteres Element, dessen Schwere nicht ignoriert werden kann: Sie legitimiert im Namen der "Demokratie" das völlig antidemokratische Verbot kommunistischer Organisationen, das in einigen Ländern der Europäischen Union in Kraft ist, und ebnet den Weg für eine Intensivierung und Verallgemeinerung dieses Verbots. In Ländern, in denen es solche Gesetze gibt, sind die kommunistischen Parteien und Organisationen den neonazistischen Kräften gleichgestellt, aber die kommunistischen Organisationen sind die ersten und wichtigsten Gegner. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es oft dieselben Länder sind, die faschistische Kriegsverbrecher offen rehabilitieren und sie als mutige nationale Kämpfer präsentieren.
Die Resolution schafft schließlich sogar eine neue zivilisatorische Mission für die Europäische Union. Diese sollte die Demokratie auch außerhalb ihres Territoriums "bewahren und vorantreiben". Dies ist genau die gleiche Argumentation, die den westlichen Militärinterventionen auf der ganzen Welt zugrunde liegt. Auch koloniale Verbrechen wurden im Namen dieser zivilisatorischen Mission verübt. Gedenkt die Europäische Union, sich das Recht einzuräumen, wenn nötig, überall in der Welt im Namen der "Demokratie" militärisch einzugreifen?
Vor dem Hintergrund des Aufstiegs der extremen Rechten und des Faschismus in ganz Europa ist diese Resolution daher nicht nur eine echte Geschichtsfälschung, sie ist vor allem politisch gefährlich. Sie muss im Zusammenhang mit dem Prozess der Normalisierung des Faschismus und der Faschisierung begriffen werden, der in unseren Ländern stattfindet. Die PTB-PVDA hat selbstverständlich gegen diesen Text gestimmt, und wir werden den Kampf gegen die Faschisierung in Belgien und Europa fortsetzen.