Marc Botenga: "Umgehung des europäischen institutionellen Systems"
Gewählte Vertreter, die mehr als 11 000 Euro im Monat verdienen. Eine Kommission, die die Interessen der europäischen multinationalen Unternehmen verteidigt... Willkommen in der wunderbaren Welt der Europäischen Union. Eine Welt, die der PTB-PVDA-Abgeordnete Marc Botenga (GUE/NGL) von innen entdeckt. Eine Reisegeschichte.
Das erste, das einem Besucher des Europäischen Parlaments auffällt, ist die Anzahl der Kontrollen, die durchgeführt werden müssen, bevor man endlich Zugang erhält. Das zweite ist die Nüchternheit der Korridore. Der gräuliche Außenhimmel scheint das Innere zu verunreinigen... Zum Glück weisen bunte Plakate auf die Nähe des Büros des linken Europaabgeordneten hin, der "gegen das Europa des Geldes kämpft" - der Slogan der PTB-PVDA während der Europa-Kampagne - Marc Botenga
Was hat Sie seit Ihrer Amtszeit am meisten überrascht, am meisten geprägt ?
Marc Botenga: Privilegien. Zunächst einmal das Gehalt, das sehr komfortabel ist. Ich erhalte 6.800 Euro netto pro Monat, und dann noch einmal 4.500 Euro pro Monat für Bürokosten. Ohne Berücksichtigung der Kommunikationsbudgets etc. Und jeden Tag, an dem ich hierher zur Arbeit komme, bekomme ich 320 Euro für meine Reise- und Hotelkosten. Da ich in Brüssel wohne, beschränken sich meine Reisekosten natürlich auf ein gutes Paar Schuhe, und ich wohne in Brüssel, also das Hotel… Darüber hinaus stehen uns kostenlose öffentliche Verkehrsmittel und sogar Autos mit Fahrer zur Verfügung... Würde ich nicht weiter von einem durchschnittlichen Arbeitergehalt leben, würde mir schwindelig werden.
Dann hat mich auch die totale Isolation des Gebäudes von der Außenwelt schockiert. Wir haben hier alles: eine chemische Reinigung, ein Fitnesscenter, eine Bank, eine Buchhandlung und bald auch einen Supermarkt, ein kleines Postamt... Kurz gesagt, eine echte Blase.
Des Weiteren gibt es eine Menge Leute, die mir sagen: "Du bist der erste Belgier, den ich je getroffen habe“. Sie wissen nichts über die Stadt, über dieses Land, über seine Menschen. Sie bleiben unter sich, auch außerhalb dieses Ortes hier.
Wenn es zum Beispiel eine Gewerkschaftsdemonstration oder einen Klimastreik gibt, erfahren es diese Leute nur über eine kollektive E-Mail vom Sicherheitsdienst des Parlaments, in der es heißt: "Seid vorsichtig, wenn ihr rausgeht, denn draußen gibt es Demonstrationen."
Etwas anderes, das mich überrascht hat, ist, dass in Debatten, zum Beispiel in Ausschüssen, Argumente nicht zählen. Das einzig Wichtige sind die Diskussionen auf dem Flur. Man sieht sich vor dem Sitzungssaal und sagt: "Wir Sozialdemokraten werden für Ihren Kommissar stimmen. Aber dafür geben Sie, von rechts, uns diesen oder jenen strategischen Posten.“ So ist es passiert, dass wir nach der Ablehnung einer französiche Kommissarin, Sylvie Goulard, die eines Interessenkonflikts verdächtigt wird, einen Kommissar, Thierry Breton, bekommen haben, der zehnmal mehr in Interessenkonflikte verwickelt ist... Es ist völlig absurd.
Von außen scheint es manchmal so, als wäre dieser Ort voller Spezialisten, Technokraten, Experten, die Dinge diskutieren, die zu kompliziert für uns sind, als dass wir sie verstehen könnten. Ist das der Fall?
Marc Botenga: In jedem Fall ist die Sprache von einer Komplexität, die so gewählt ist, dass die Menschen nichts verstehen. Das muss nicht zwingend so sein, sondern es ist politischer Wille. Es ist ein bisschen wie diese Fenster (er zeigt auf das Fenster hinter ihm, Anm. d. Red.). Von hier aus kann man nach draußen sehen. Aber von der Straße aus kann man nicht hereinschauen, es ist undurchsichtig. Es gibt eine falsche Transparenz in den Texten und Debatten. Alles ist sehr komplex gehalten, damit die Leute es nicht verstehen und damit man sie besser täuschen kann. Sie sagen: "Wir werden Sozialdumping verbieten.“ Dann wird diskret hinzugefügt: "So bald wie möglich." Resultat: Man wird Sozialdumping niemals verbieten...
Kommen wir zu der neuen Kommission, die gerade erst eingesetzt wurde. Sie sind der einzige linke belgische Europaabgeordnete, der dagegen gestimmt hat. Warum haben Sie dagegen gestimmt?
Marc Botenga: Wir in der Europäischen Union befinden uns in einer Krise, und sowohl in einer klimatischen als auch in einer sozialen Notsituation. Ein sozialer Notstand für 113 Millionen Europäer. Mehr als jeder fünfte EU-Bürger ist von Armut bedroht. Während wir auf einem reichen Kontinent sind. Die osteuropäischen Länder haben bis zu 25% ihrer Bevölkerung verloren. Es gibt 20 Millionen Menschen, die ihre Länder verlassen mussten, weil sie keine Arbeit mehr haben und keine sozialen Rechte mehr besitzen.
Aber die neue Kommission will vorrangig die großen multinationalen Unternehmen unterstützen, die sie als "Europameister" bezeichnet. Stärkere multinationale Unternehmen in Europa bedeuten Arbeitskräfte, die härter für weniger Lohn arbeiten müssen, um sicherzustellen, dass die multinationalen Unternehmen genauso viel Gewinn machen können wie ihre amerikanischen, chinesischen und anderen Konkurrenten. Nach dieser Logik der Wettbewerbsfähigkeit werden die großen europäischen Bosse erst zufrieden sein, wenn die europäischen Arbeiter die gleichen Löhne wie die Arbeiter in Bangladesch haben.
Wenn die Kommission sagt, "unsere multinationalen Unternehmen müssen dominieren", dann treten wir auch in eine militaristische Logik ein: Wenn ein Land, ein Block, entscheidet dass "sein" multinationales Unternehmen an einem Ort aktiv sein muss, ist ein anderes Land oder ein anderer Block verärgert, weil es will, dass eines seiner multinationalen Unternehmen den Markt übernimmt. Die Europäische Kommission will vor allem einen stärkeren europäischen Staat, um die Interessen der europäischen Multis in der Welt zu verteidigen. Ursula von der Leyen wird dem Militär- und der Verteidigungssektor wesentlich mehr Geld zur Verfügung stellen. Wir haben den Krieg um das Öl im Irak vor Augen, aber die Europäische Union will in der Lage sein, das Gleiche zu tun wie die Vereinigten Staaten. Die Ressourcen anderer Länder plündern. Das können wir in Afrika sehen. Multinationale Unternehmen benötigen billige Rohstoffe, um Hightech-Batterien zu bauen und Gewinne zu erzielen. Deshalb bereitet die Europäische Union eine politische Strategie für Afrika vor, um die Kontrolle zu übernehmen und dem Kontinent seine Ressourcen zu rauben. Das bedeutet, dass wir in eine Logik des Wirtschaftskrieges eintreten und nicht in eine Kooperation auf internationaler Ebene. Josep Borrell, der Chef der europäischen Diplomatie, erklärte kürzlich, dass Nordafrika der "Hinterhof" Europas sei und dass es notwendig sei, "die Probleme" dort mit einer "gemeinsamen militärischen Kraft" zu lösen… (1). Dieser Krieg zwischen den Blöcken steht auch hinter der Logik des "Green Deal", den die neue Kommission mit großem Pomp präsentiert.
Ist dieser grüne Deal eine geschickte Kommunikationsmaßnahme oder eine echte Sorge um das Klima?
Marc Botenga: Zunächst einmal sollten wir klarstellen, dass dieser grüne Deal wegen der Mobilisierung der Straße zustande gekommen ist. Vor der Bewegung wurde im Europäischen Parlament nur sehr wenig über das Klima gesprochen. Natürlich sind sich die Verantwortlichen seit den 1980er Jahren des Problems bewusst. Heute sind sie dank der Mobilisierungen gezwungen, Stellung zu beziehen. Der vorgeschlagene Green Deal ist im Moment eher vage, aber Greenpeace hat bereits darauf hingewiesen, dass er "unzureichend" sein wird und das Pariser Abkommen gefährdet. Ich bin auch sehr besorgt, weil die Kommission beabsichtigt, die lohnabhängigen Arbeiter für diesen Deal bezahlen zu lassen. Sie will zum Beispiel das europäische Gesetz über die Kohlenstoff-Steuer auf Treibstoff überprüfen, und es ist von einer Kilometersteuer die Rede.
Wir hören viel über Sozialdumping. Warum stecken Sie so viel Energie in dieses Thema?
Marc Botenga: Was ist Sozialdumping? Es ist Dumping, also eine Spirale, ein Druck nach unten auf Löhne, Arbeitsbedingungen usw., der von den Unternehmen organisiert wird, die die Unterschiede bei den Löhnen und sozialen Rechten innerhalb der Europäischen Union ausnutzen. Es ist ein Wettbewerb, der sich auf die Bruttolöhne stützt. Das Sozialdumping findet häufig über den Teil des indirekten Lohns statt (das Brutto, das zur Finanzierung der Sozialversicherung verwendet wird). Wenn ein Unternehmen einen Arbeiter vorübergehend in einen anderen europäischen Staat entsendet, muss es die Sozialversicherungsbeiträge des Landes, in welches es die Arbeitskraft entsendet, nicht bezahlen. Damit nutzt das Unternehmen den Umstand, dass das Bruttogehalt in Rumänien beispielsweise deutlich niedriger ist als im Inland. Es wird dann einen Arbeiter mit einem rumänischen Vertrag nach Belgien "entsenden", um nur die Sozialversicherungsbeiträge zum niedrigeren rumänischen Satz abrechnen zu können.
Es ist ein echtes Geschäft für die Firmenchefs geworden. Unternehmen nutzen das System manchmal durch die Gründung fiktiver Briefkastenfirmen. Beispielsweise wurden 100.000 Bauarbeiter aus Slowenien eingestellt, aber es gibt nur 55.000 Bauarbeiter in diesem Land! Dies ist alles zum Vorteil der Bosse, aber es übt Druck aus, um die von den Unternehmen in Belgien gezahlten Sozialbeiträge zu senken. Schwächung der Arbeitsrechte und der Sozialversicherung.
Das muss jetzt aufhören. Und das ist durchaus möglich. Ich arbeite an einer Verordnung zu diesem Thema auf europäischer Ebene. Die Unternehmen könnten zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe des Satzes des Landes, in dem der Arbeitnehmer arbeitet, verpflichtet werden. Aber es gibt enorme Widerstände. Denn die Priorität für die traditionellen Parteien besteht darin, dem Markt, dem freien Dienstleistungsverkehr, den Vorrang zu geben. Sie sagen, dass dies bestimmte Unternehmen entmutigen wird. Das ist wahr. Aber welche Unternehmen? Diejenigen, die die Arbeiterrechte nicht respektieren wollen...
Wie können wir gegen diese neue Kommission vorgehen?
Marc Botenga: Der Vertrag von Maastricht und alle Institutionen der Europäischen Union wurden gemeinsam mit den großen Unternehmenslobbys wie dem Europäischen Runden Tisch der Industriellen (ERT) entwickelt. Sie haben ihre Einheit mit Hilfe dieser Institutionen aufgebaut. Wir müssen unsere eigene aufbauen. Wenn wir die Dinge in Europa wirklich verändern wollen, müssen wir das institutionelle System umgehen. Den Hafenarbeitern gelang es, die Liberalisierung ihres Status zu stoppen. Wie? Weder durch eine Mobilisierung ausschließlich auf europäischer noch durch eine Mobilisierung ausschließlich auf nationaler Ebene. Sie haben sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene mobilisiert, nationale Streiks, wie auch europäische Streiks. Damit wird das europäische System in Frage gestellt: Die Abgeordneten standen zu Hause unter Druck, und hier, im Rat, in dem die Staaten vertreten sind, wurden alle Regierungen durch einen Streik in ihrem Land unter Druck gesetzt. Die Kommission ihrerseits stand mit den Demonstrationen, die vor ihren Augen stattfanden, unter Druck...
Das ist es, was die Arbeiterorganisationen versuchen: die Einheit der europäischen Arbeiter zu bilden. Dies ist die einzige Lösung, um ein ausreichendes Kräfteverhältnis zu erreichen, um den europäischen Institutionen entgegenzutreten. Es ist möglich.
Es gibt also Grund zum Optimismus?
Marc Botenga: Ja. Sobald es eine Bewegung aus unterschiedlichen Ländern gibt, zittern die politischen und wirtschaftlichen Führer. Es ist ein bisschen wie auf einem Fußballfeld. Uns gegenüber stehen 11 Spieler, die der Taktik des Trainers folgen. Wenn wir auf das Spielfeld gehen, ohne einander zu kennen, ohne uns über die Taktik zu verständigen, werden wir mit 5:0 geschlagen. Aber wenn wir in der Umkleidekabine eine Strategie entwickeln und mit der Absicht aufs Feld gehen, als Team zu spielen, dann hält unser Gegner keine halbe Stunde durch...
Die Dinge sind in Bewegung. Die Leute haben die Nase voll, für alles zu bezahlen. Ich war bei den Demonstrationen um die Renten in Frankreich und Spanien, es waren viele Leute aus verschiedenen Bereichen. Private und öffentliche Gewerkschafter, Gelbwesten, Rentner, Bauern waren auf der Straße, um endlich "Schluss" zu sagen. Während unsere Rechte vernichtet werden, hat das Großkapital noch nie so viel Gewinn gemacht, die Aktionäre haben noch nie so viele Dividenden erhalten. Der Kampf um die Rente ist ein Klassenkampf. Genau wie jede andere Frage.
Und wir motivieren Arbeiter in anderen Ländern. In Frankreich und Spanien kamen Demonstranten zu den PTB-PVDA-Delegationen und fragten nach Details, wie wir es geschafft haben, die Rente nach einem Punktesystem zu Hause zu blockieren. Dieser Sieg zeigt, dass es möglich ist, zu gewinnen. Wir müssen Optimismus verbreiten.
Sie sind der erste Europaabgeordnete der PTB-PVDA. Was bringt ein linker Abgeordnete der „stichelt“?
Marc Botenga: Zunächst einmal reicht es über das Parlament hinaus. Wir sind nicht nur hier, um einen Knopf zu drücken. Als Abgeordnete des Europäischen Parlaments müssen wir aus diesem Plenarsaal herauskommen und mit den Beschäftigten in Belgien, aber auch anderswo in Europa sprechen. Selbstverständlich betreiben wir unsere parlamentarische Arbeit ernsthaft. Und das hat Auswirkungen. Wir sehen, dass die belgische Sozialistische Partei bei der Abstimmung über die neue Kommission etwas zu sagen hat. Bislang hat man das nicht allzu oft gehört. Abgeordnete die sich selbst als "links", "progressiv" bezeichnen, haben zum Zeitpunkt der Abstimmung einen gewissen Druck. Etwas, das sie vorher fast gar nicht hatten... Wir bringen wirklich etwas. Wir stören wirklich. Wir decken Dinge auf, wie z.B. den Skandal der Kommissare und ihre Interessenkonflikte. Aber hauptsächlich sind wir auf der Straße aktiv. Bei den Demonstrationen in Frankreich und Spanien sah ich keinen einzigen der anderen belgischen Abgeordneten...
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De Standaard, 23. November 2019