Die Polykrise und die Herausforderungen für die Linke
Peter Mertens, Internationale Konferenz für das Gleichgewicht der Welt, Havanna, 25. Januar 2023
INHALT
I. Die Polykrise
I.1. Wirtschaft
I.2. Geopolitik
II. Die Herausforderungen für die Linke
II.1. Prinzipien
II.2. Flexibilität
II.3. Arbeiterklasse und Jugend
Vor 175 Jahren verfassten Karl Marx und sein Herzensbruder Friedrich Engels in Brüssel das Manifest der Kommunistischen Partei, eines der einflussreichsten politischen Schriftstücke der modernen Geschichte.
Brüssel ist nicht Davos. In der höchstgelegenen Stadt Europas, in den Schweizer Alpen, versammeln sich dieser Tag Banker*innen, Großindustrielle, hochrangige Politiker*innen, Milliardär*innen und Lobbyist*innen auf dem Weltwirtschaftsforum. Auf höchster Ebene sind hier Großunternehmen und Weltpolitik sozusagen unter sich.
175 Jahre nach dem Manifest erklärt der Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums: „Achtzig Prozent der Experten denken, dass wir von Krise zu Krise springen.“ Seiner Auffassung nach leben wir in einer „Polykrise“.
In einer Polykrise oder in einer von verschiedenen Krisen geprägten Gemengelage: Wirtschaftskrise (Inflation und Rezession), Umweltkrise (Klima und Pandemie) und geopolitische Krise (Krieg und internationale Spaltung).
Heute steht die Welt vor großen Veränderungen, vielleicht sogar vor umfassenderen als im Jahr 1848. Die Ära der kapitalistischen Globalisierung unter der Vorherrschaft der USA geht auf ihr Ende zu. Die Welt teilt sich erneut in zwei neue Pole; die Linke steht damit vor enormen Herausforderungen. Es ist an der Zeit, dass die Linke sich regeneriert. Feste Prinzipien mit Flexibilität kombinieren, das Wagnis eines Klassenstandpunktes eingehen und sich konsequent der Jugend zuwenden.
Ich danke den Organisator*innen der Konferenz für das Gleichgewicht der Welt, das ich heute vor euch über diese Themen sprechen darf.
I. Die Polykrise
I.1 Wirtschaft
Mehrere Regierungs- und Zentralbankchefs bemühen sich, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass bald alles wieder normal wird. Unsere Wirtschaft werde zum Niveau vorpandemischer Zeiten zurückkehren, behaupten sie.
Doch das ist nicht der Fall. Alles weist auf das Gegenteil hin: Die Great Moderation, die Zeiten schwacher Inflation und mehr oder weniger stabiler Wirtschaftstätigkeit, liegt hinter uns. Die drei wichtigsten Wirtschaftszentren USA, China und Europa lahmen. Ein Drittel der Weltwirtschaft könnte dieses Jahr in die Rezession gehen.
In den Jahren der Stabilität war China eine Triebkraft des Wachstums innerhalb der sich verlangsamenden Weltwirtschaft. Doch auch der chinesische Motor verliert an Tempo. Der Grund dafür: Das Ende der Immobilienblase, die Funktionsstörungen in den Beschaffungsketten und die Fehlentwicklung in der Pandemie. „Zum ersten Mal in 40 Jahren trägt China nicht zusätzlich zum Wirtschaftswachstum der Welt bei“, erklärt Kristalina Georgiewa, die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Die Weltwirtschaft hat sich von der Krise 2008 nie vollständig erholt. Die Finanzelite musste den Privatbanken unter die Arme greifen. Die Kosten dieser Maßnahmen wurden anschließend in Form drastischer Sparmaßnahmen auf die Arbeiter*innen abgewälzt. Die Zentralbanken der kapitalistischen Welt haben tausende Milliarden Frischgeld ins System gepumpt. Der größte Teil dieses vermeintlich „kostenlosen“ Geldes landete auf den Konten von Großkonzernen. Die Verschuldung stieg weiter, und die Spekulation wurde angeheizt.
Ein Jahr vor Covid-19 zeichnete sich bereits eine neue Rezession ab. Deutschland war das erste europäische Land mit einem Negativwachstum. Als das Coronavirus erkannt wurde, war der Patient schon längst krank. Jeder weiß, dass ein kranker Patient weniger Abwehrkraft hat. Die Wirtschaft musste umgehend auf die Intensivstation gebracht und an den Tropf gehängt werden. Hochdosierte Geldspritzen vom Staat konnten das Schlimmste verhindern. Hunderte Milliarden Euro wurden in Rettungsmaßnahmen und Direkthilfen gesteckt und haben die Staatsverschuldung erhöht.
Es ging in erster Linie um die Rettung der großen Unternehmen. Konzerne mit Monopolstellung, Fluggesellschaften, die Automobilindustrie und andere Riesen erhielten Zahlungsaufschub, Garantien und Unmengen von Zuschüssen. Gleichzeitig wussten etliche normale Bürger*innen und kleine Selbstständige nicht, wie sie über den Monat kommen sollten.
Die Pandemie lag noch nicht hinter uns, als schon Prognosen für eine „allgemeine Erholung“ im Jahr 2021 die Runde machten. Doch das bestätigte sich nicht, denn die weltweiten Lieferketten litten unter lähmenden Funktionsstörungen. Die Preise stiegen bereits Monate vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine immer weiter an.
Der Krieg ist der zweite harte Schlag. Der kranke Patient, der sich in der Zwischenzeit nicht erholt hat, erleidet nun Komplikationen. Wirtschaftliche Sanktionen und Gegensanktionen führten dazu, dass wir unsere gesamte Energieversorgung auf den Prüfstand stellen mussten. Der Profithunger der großen Monopole hat die Preise für Energie und Lebensmittel explodieren lassen. Die Versorgung zahlreicher Länder des Südens mit Getreide ist nicht mehr gesichert. Unter dem allgemeinen Druck mussten die Regierungen ihre Rüstungsetats gewaltig aufstocken.
Inzwischen ist die Rettung des Systems durch weitere Verschuldung, wie zu Zeiten der Banken- und der Coronakrise, keine Option mehr. Das gesamte Finanzsystem wird also gerade einem immensen Stresstest unterzogen.
Tatsächlich wird jetzt überall Inflationsalarm geläutet. Auch wenn Preissteigerungen von zehn Prozent und mehr hinter uns liegen, werden die Energiepreise nie wieder auf das vorherige Niveau zurückfallen. Sie werden noch mindestens drei Jahre erhöht bleiben. In dieser Zeit steigen die Lebensmittelpreise weiter. Die Monetarist*innen wollen gegen die Inflation mit einer Reduzierung der Geldmenge und steigenden Zinssätzen ankämpfen. Die Politik des „kostenlosen Geldes“ steht also nicht mehr zur Verfügung. Infolge der sehr niedrigen Leitzinsen seit 15 Jahren hat sowohl die staatliche als auch die private Verschuldung nicht mehr haltbare Ausmaße angenommen. Das Weltwirtschaftsforum geht davon aus, dass Tunesien, Argentinien, Ägypten, Ghana, Kenia, Pakistan und die Türkei bald zahlungsunfähig werden. Die Länder des Südens sind somit die ersten Opfer dieses Krisenklimas.
Die Arbeiterklasse und der globale Süden sollen die Rechnung bezahlen. Dieser Klassenkampf wird von oben erzwungen. Man bereitet sich auf einen neuen allgemeinen Trend zu Mäßigung und Sparpolitik vor. Vier Jahrzehnte Neoliberalismus haben auf die Reallöhne einen ausgesprochen negativen Einfluss gehabt. Man kann eine enorme Umverteilung von Arbeit zu Kapital beobachten. Arbeit wird verhältnismäßig geringer entlohnt, während auf der anderen Seite die Profite rasant steigen. Preisstopps und Lohnerhöhungen sind die Hauptanliegen des wirtschaftlichen Klassenkampfes dieser neuen Zeit.
I.2. Geopolitik
In der Zeit des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion war China noch ein Außenseiter. In den 1960er Jahren gehörte das Land zu keinem der beiden Blöcke und zeigte sich zuweilen kritischer gegenüber Moskau als gegenüber Washington. Bis zur Aussöhnung mit den USA 1971 musste China versuchen, sich innerhalb seiner eigenen Grenzen und abgeschnitten vom Rest der Welt zu entwickeln.
In den 1970er Jahren begann China ausländisches Kapital anzuziehen und Ende der 1990er Jahre war die chinesische Wirtschaft weitgehend ins globale kapitalistische System integriert. Das Land importierte Rohstoffe, exportierte Industriegüter und Dienstleistungen und wurde immer aktiver im Außenhandel. Die neue Seidenstraße begann Form anzunehmen. In dieser Zeit konnten Washington und Beijing sich ungeachtet ihrer Rivalitäten gut ergänzen. China wurde rasch industrialisiert, während die USA die chinesische Wirtschaft finanzierten – zwei sich ergänzende Entwicklungen. Ende 2001 wird China offizielles Mitglied der Welthandelsorganisation.
Der US-Präsident Barack Obama beendete diese Parallelentwicklung. Seine Pivot-to-Asia-Politik zielte explizit auf Beijing ab, man drohte mit Wirtschaftskrieg. Obama wollte verhindern, dass China auf technologischer Ebene völlig selbstständig wird, wodurch es in der Lage wäre, die Hegemonie der USA zu bedrohen. Nach Obama setzte Donald Trump den Wirtschaftskrieg mit einer Reihe protektionistischer Maßnahmen fort.
Die Biden-Regierung verstärkte den Druck ab Oktober 2022 und startete einen Technologiekrieg gegen China. Joe Biden verbot den Export erweiterter integrierter Schaltsysteme nach China, gemeint sind Chips, die Technologie für deren Entwicklung sowie Maschinen für ihre Herstellung. Das Ziel ist, China den Zugang zur Spitzentechnologie der Zukunft und zu Chips der jüngsten Generation zu verwehren, die unter anderem für künstliche Intelligenz und hochentwickelte Waffensysteme benötigt werden.
Diese Wirtschafts- und Technologiekriege vertiefen die Kluft im aktuellen Weltwirtschaftssystem. Um ihre Position in den weltweiten Industrieketten abzusichern, werden China und andere Schwellenländer ein vom alten, US-dominierten System unabhängiges internationales Wirtschaftssystem etablieren müssen. Der neue Kalte Krieg bedeutet somit auch das Ende der 1990 eingeleiteten Epoche kapitalistischer Globalisierung.
In der Zwischenzeit entscheiden sich immer mehr Länder für ein unabhängiges Schicksal. Die Mehrheit der Länder positioniert sich gegen den Krieg Russlands gegen die Ukraine, und das zu Recht. Doch außerhalb der westlichen Staaten sind nur wenige Länder zu den Sanktionen bereit, die Washington vorschreiben will. Das bedeutet einen tiefgreifenden Wandel, in gewisser Weise eine Revolte der nichtwestlichen Länder gegen die etablierte Ordnung. Eine neue Gruppe politisch „ungebundener Länder“ ist nicht länger bereit, das Spiel der USA mitzuspielen. So endet also das kurze Herrschaftsmodell der „unipolaren“ Weltordnung mit einer nach US-Regeln gesteuerten wirtschaftlichen „Globalisierung“ und dem Dollar als internationaler Leitwährung.
Während zahlreiche Länder des Südens sich nicht zwingen lassen, Partei zu ergreifen, erscheint die Europäische Union zunehmend von den USA gesteuert. Offenbar drängt Biden die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen beharrlich in die Ecke.
Der Krieg in der Ukraine ist unfassbar teuer. In Deutschland wurden innerhalb weniger Wochen mit einer 80-jährigen politischen Tradition gebrochen. Das Land investiert mehr als 100 Milliarden Euro in militärische Zwecke und kauft neue Waffensysteme in großen Mengen. Und zwar nicht in einem anderen europäischen Land, sondern in den USA, deren Rüstungsindustrie boomt. Als das Eis in Deutschland einmal gebrochen war, folgten andere Länder: Frankreich, Polen, Litauen, Dänemark, Schweden und Belgien. Alle haben ihre Militärausgaben aufgestockt und kaufen neue Ausrüstungen in den USA. Um diese Einkäufe zu finanzieren, werden reihenweise öffentliche Investitionsprojekte gestoppt und Löhne eingefroren. Ein militärischer Krieg im Außen und ein sozialer Krieg im Innen – das sind zwei Seiten derselben Medaille.
Die USA haben die Europäer*innen gezwungen, ihre Erdgaslieferverträge mit Moskau aufzukündigen und Alternativen zu suchen. Dazu zählt das extrem teure US-amerikanische Fracking-Gas. Der Preis für eine Schiffsladung Fracking-Gas aus den USA mit Transport über den Atlantik lag im Herbst bei 60 Millionen Euro und ist inzwischen auf 200 bis 300 Millionen Euro gestiegen. Während die Monopole des Energiesektors in den USA kräftig absahnen, leidet die europäische Wirtschaft. Das Chip-Embargo für China wirkt sich auch schädigend für die europäischen Unternehmen im Bereich der Spitzentechnologie aus, darunter ASML in den Niederlanden und Carl Zeiss in Deutschland.
Doch für Washington ist damit nicht genug. Die Regierung pumpt riesige Vermögen in den neuen Protektionismus. Mit dem Inflation Reduction Act will Biden die nächsten neun Jahre Unternehmen mit 370 Milliarden Dollar subventionieren. Dieses „Klimaschutzprogramm“, wie die US-Regierung es nennt, enthält massive Anreize für den Kauf von Elektroautos und Batterien aus US-Fertigung.
Bedenkt man nun noch die extrem hohen Energiepreise in Europa, so versteht man, warum Unternehmen mit hohem Energieverbrauch und Chemieunternehmen wie BASF und Tata Chemicals planen, einen Teil ihrer Produktion in die USA zu verlegen. Der norwegische Batteriehersteller Northvolt wird seine Expansionsprojekte in Deutschland möglicherweise auch erst einmal auf Eis legen und lieber in den USA investieren. Washington ist bereit, Northvolt umfänglich zu subventionieren. Die USA betreiben ganz offen die Deindustrialisierung des europäischen Kontinents.
Europa reagiert schwach oder gar nicht, und Brüssel trottet Washington immer williger hinterher. Wer noch die Unabhängigkeit der Europäischen Union hochhält, befindet sich in der Defensive, allerdings ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Die tektonischen Platten dieser Welt kollidieren. In der nahen Zukunft werden zwei der drei größten Wirtschaftsmächte der Erde in Asien liegen: China und Indien. Wenn eine Schwellenmacht die regionale oder internationale Hegemonie einer etablierten Macht unter Druck setzt, wie China es heute tut, spricht man von einer Thukydides-Falle. Eine solche Situation kann die ganze Welt erschüttern. Aber auch das aktuelle Verschuldungssystem bringt die alten Kräfte ins Wanken. Was passiert, wenn China nicht mehr in der Lage ist, beim allgemeinen Verschuldungssystem mitzumachen? Oder es ihm verboten wird oder das Land nicht mehr mitmachen will? Was passiert dann?
Eine Welt mit zwei Polen ist nicht die einzige mögliche Option. China selbst verlangt nicht nach einer bipolaren Welt mit zwei Blöcken. Es geht seinen eigenen Weg der Stabilität und beteiligt sich weiter am Welthandel. Auch im Rest der Welt streben zahlreiche Kräfte nach ihrer eigenen Entwicklung und einer multipolaren Weltordnung. Wir unterstützen diesen Weg, um die großen Herausforderungen des dritten Jahrtausends anzugehen, für Frieden, gegen Ungleichheiten und Klimaverschlechterung und für weltweite Gesundheit.
II. Die Herausforderungen für die Linke
Krisen führen nicht zwingend zu sozialer Bewusstwerdung oder einem Linksruck. Das wissen wir.
Viele Menschen suchen in solchen Zeiten Sicherheit und ziehen sich eher ins Private zurück. Häufig verschwindet der Rahmen für ermächtigende Denkmodelle, Perspektiven dünnen aus. Ein idealer Nährboden für Pessimismus und Defätismus, der gern von rechtsextremen Scharlatanen bestellt wird, die sich selbst als Heilande preisen.
Für die Linke sind das keine einfachen Zeiten. Trotzdem hat sie viele Möglichkeiten, vorausgesetzt sie wagt es, eine neue Dynamik zu entwickeln, ihre Prinzipien wiederzubeleben, flexibel zu sein und sich an die Arbeiterklasse und die Jugend zu wenden. So sehen wir die Dinge aufgrund unserer bescheidenen Erfahrungen in einem kleinen Land in Europa. Ja, dieses kleine Land ist bekannt für das Saxofon und die Schlümpfe. Es ist aber auch der Sitz der NATO und der Europäischen Kommission.
II.1. Prinzipien
Unsere Partei, die Partei der Arbeit Belgiens (PVDA-PTB), hat sich in den letzten zehn Jahren stark entwickelt. Seit dem Congrès du Renouveau 2008 (Kongress der Erneuerung) ist sie von 2800 auf 25 000 Mitglieder gewachsen. Wir bekamen 8 Prozent der Stimmen auf Landesebene und haben 12 Sitze im Föderalen Parlament und einen Sitz im Europaparlament. Im europäischen Rahmen sind solche Erfolge bei marxistischen Parteien eher selten.
Bei uns in Belgien geht es bei der „höfischen“ politischen Kultur gerade drunter und drüber. Denn plötzlich sitzen Kommunist*innen im Parlament. Man ist nicht mehr unter sich! Es gibt eine Unmenge von Mechanismen, um aufmüpfige Parteien kleinzuhalten. Parlamentarier*innen haben disproportionale Bezüge, wodurch sie von den Machtstrukturen abhängig werden. Ihre Bereitschaft zu Kritik oder gar Veränderungen an eben diesen Strukturen sinkt daher. Bei diesem Druck verkriecht sich manch einer gern in der parlamentarischen Blase, quasi unter gleichgesinnten Akademiker*innen, herausgeputzt und selbstgefällig, fernab von der realen Welt.
Was lässt sich dagegen tun? Wir gehen von der Idee aus, dass nur ein Prozess sozialen Handelns sowie Organisation und Information die Kräfteverhältnisse im echten Leben verändern können. Unsere Führungskräfte und Abgeordneten müssen alle mindestens die Hälfte ihrer Zeit in der realen Welt verbringen. Die parlamentarische Arbeit ordnet sich dem sozialen Kampf unter und nicht umgekehrt. Unsere Führungskräfte und Abgeordneten leben alle von einem mittleren Arbeiterlohn und führen ihren Gehaltsüberschuss an die Partei ab. Wir formulieren es so: „Man muss so leben, wie man denkt, sonst passiert es schnell, dass man denkt, wie man lebt.“
Es gibt einen Punkt, der vielleicht noch wichtiger ist: In unserer Partei trifft nicht die Parlamentariergruppe die Entscheidungen. Nicht die Parlamentariergruppe arbeitet die Standpunkte in der Pandemiepolitik, zur Energiekrise oder zum Krieg aus. Es sind die gewählten Organe im Rahmen einer tiefgehenden Debatte. Die Parlamentarier*innen stehen nicht über den anderen Parteimitgliedern. Sie dienen der Partei. Das ist eine Frage des Prinzips.
Wir meinen, dass die Linke in einer Welt, in der das Geschrei der Rechten den ganzen Rest übertönt, nur vorankommen kann, wenn sie sich auf solide linke Grundsätze und Prinzipien besinnt. Hierfür muss eine tiefgehende, systematische Analyse der jeweiligen Situation vorgenommen werden. Diese Analyse muss bodenständig sein und aus marxistischem Blickwinkel erfolgen. Überspringt man diese Etappe, flattert man nur wie ein aufgescheuchtes Huhn umher. Der Klassenstandpunkt ist die Basis.
Das ist nicht immer leicht. Als russische Panzer die Ukraine überfallen haben, mussten alle Stellung beziehen. Es gibt das Recht, sich gegen jede Art von Einmischung von außen zu verteidigen. Natürlich existieren die Feindseligkeiten schon seit 2014, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass der russische Angriff gegen internationales Recht verstößt. Doch sehr schnell wurde auch offensichtlich, dass dieser Krieg zwei Seiten hat: Es gibt einerseits den Verteidigungskrieg gegen den Einfall der russischen Armee und andererseits den Stellvertreterkrieg der USA und der NATO gegen Russland. Dieser Stellvertreterkrieg lässt die Lage kippen. Am Beginn löste der Krieg in Europa eine kollektive Hysterie aus. Alle sollten blindlings den Anweisungen des Pentagons folgen. Wer eine andere Perspektive vertrat, wurde verhöhnt und als Meinungsaußenseiter abgestempelt. Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg 1914, als alle für die Kriegskredite stimmen mussten.
In solchen Momenten ist es besonders wichtig, eine tiefgehende Analyse der Situation vorzunehmen und die Zeit und den Raum für eine sachliche Debatte innerhalb der Partei zur Verfügung zu stellen. Und so haben wir entschieden, nicht für einen zusätzlichen Militärhaushalt zu stimmen. Wir haben gegen die Sanktionspolitik und gegen die Lieferung von Waffen gestimmt. Und wir haben aktiv die Friedensbewegung „Europe for Peace“ unterstützt. Wir standen mit unserer Position oft allein im Parlament. Doch manchmal schwimmt man besser kurzzeitig gegen den Strom als langfristig gegen den Lauf der Geschichte.
II.2. Flexibilität
Dies führt mich direkt zu unserem zweiten Prinzip: Flexibilität beweisen. Es ist von Grund auf wichtig, Prinzipien zu haben, aber diese allein genügen nicht. Hält man sich nur an seine Prinzipien, wird man unbeweglich. Es reicht nicht, Recht zu haben, man muss auch überzeugen und Dinge verändern.
Die Kriegsfrage ist lebenswichtig. Auf unsere Partei wurde Druck ausgeübt, damit sie trotz allem für die Beschlüsse stimmt, „sich nicht isoliert“ und „vor allem nicht alles zerstören lässt, was in den letzten Jahren aufgebaut wurde“. In solchen Situationen muss man einen kühlen Kopf bewahren und auf die Einigkeit der Partei in ihren eigenen Prinzipien vertrauen können. Doch das genügt nicht. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, den Menschen „große Wahrheiten“ zu verkünden. So funktioniert das nämlich nicht.
Wir haben bemerkt, dass bestimmte linksradikale Bewegungen sich gern in ihrer Blase aufhalten, und dabei jeglichen Sinn für Situationspolitik verlieren. Man wirft mit Slogans um sich, während man warm und trocken am Schreibtisch sitzt. Für diese Leute sind wir nie links genug. Sie verbringen ihre Zeit damit, uns Ratschläge zu erteilen. Doch wir lassen uns weder von rechter noch von linksradikaler Rhetorik unter Druck setzen. Unsere Antworten ziehen wir aus Debatten, Argumentationen und Bildung. Wir überzeugen, indem wir geduldig zuhören und einen soliden Klassenstandpunkt vertreten.
Man muss Strategie und Taktik auseinanderhalten. Wir denken über eine Strategie nach, um uns darüber klar zu werden, wo wir hinwollen, was langfristig unsere Ziele sind, wie wir sie erreichen wollen und wer unsere Verbündeten und unsere Widersacher sind. Wir denken über Taktiken nach, um den geeignetsten Weg und die besten Methoden für das Vorankommen auf diesem Weg zu finden. Und dazu gehört sicher nicht, die Menschen mit „großen Wahrheiten“ oder mit unserem „Komplettprogramm“ zu erschlagen. Wir denken, dass die Linke es beherrschen sollte, den Geist und die Herzen der Menschen zu bewegen. Mind und Soul. Das geschieht, wenn Menschen ihre eigenen Erfahrungen machen, wenn ihnen etwas am Herzen liegt, wenn sie sich auf den Weg machen, sich organisieren und kämpfen. Es ist daher unerlässlich, das existierende Kräfteverhältnis und das Bewusstseinsniveau zu berücksichtigen.
In Europa haben Krieg und Spekulation zu einem starken Anstieg der Energiepreise geführt. Das bekommen die Menschen im Alltag zu spüren. Wir fordern, dass den marktbeherrschenden Unternehmen der Energiesektor aus den Händen genommen wird, denn sie zwingen uns heute diese exorbitanten Preise auf und verhindern damit den echten grünen Wandel. Wir kämpfen für diesen Wandel. Gleichzeitig haben wir aber auch „Energiestützpunkte“ eröffnet, wo Menschen Hilfe bekommen, die Schwierigkeiten bei der Bezahlung ihrer Energierechnungen haben. Wir versuchen konkret zu helfen und suchen vor allem nach kollektiven Lösungen. Diese Hilfe untermauert unsere politische Kampagne.
Für uns gehören Prinzipientreue und Flexibilität zusammen. Eine Partei, die flexibel sein kann, ist eine Partei, die sich an die Umstände anpasst, in denen sie wirkt. Taktik ist ein fester Bestandteil des Marxismus. Eine intelligente Taktik sieht Momente des Angriffs und des Rückzugs vor. Doch Taktik ordnet sich immer der Strategie unter. Unsere Absicht ist es, Fortschritte im Hinblick auf unsere Strategie zu machen. Unsere Taktik soll uns unseren Zielen näherbringen, nicht uns von ihnen entfernen.
II.3. Arbeiterklasse und Jugend
Als Letztes die Frage der Kräfte des Wandels. Auf welche Kräfte können wir uns stützen, um den Wandel zu erzwingen? Auf die Arbeiterklasse, haben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest geschrieben. Heute ist die Welt noch viel stärker industrialisiert als damals. Wir finden, es ist Zeit, wieder ganz klar und stolz Klassenpolitik zu machen.
In der Coronakrise ist eins deutlich geworden: Nicht die Aktienmärkte haben die Welt am Laufen gehalten, nicht die Börse hat die Gesellschaft weiterfunktionieren lassen, nicht die Klasse der Schwätzer hat die Kastanien aus dem Feuer geholt. Es war die Arbeiterklasse – all jene, die Arbeit gegen Lohn leisten, die auf den Bauernhöfen und den Feldern arbeiten, Fleisch verarbeiten, mit Zügen und Lkws Waren ausliefern, Schiffe be- und entladen, die Regale in den Geschäften einräumen, die Pakete zustellen und die Pflege organisieren.
Doch die Arbeiterklasse wurde genauso schnell vergessen wie das Coronavirus. Und die Klassenpolitik ebenfalls. Für uns muss eine linke Partei den Arbeiterinnen und Arbeitern in ihren Reihen und in ihrer Ausrichtung einen zentralen Platz einräumen. Sie muss ihre Politik auf die Klasseninteressen der Arbeiterklasse im weiteren Sinne ausrichten. Wir meinen, dass dies selbstverständlich sein sollte. Ist es aber nicht.
Immer mehr Bewegungen vergessen die wirtschaftliche Analyse. Sie sprechen nicht mehr von der „Arbeiterklasse“, sondern von der „Mitte“ und der angeblichen „Mittelschicht“. Es geht nicht mehr um eine Klassenanalyse, um Produktion, Werkstätten und Held*innen der Coronakrise. Die Klassenunterschiede im vorherrschenden Diskurs wurden abgeräumt und Tor und Türen geöffnet für identitäre Debatten. Widersprüchlichkeiten werden aufgebauscht, reale wie ausgedachte, und bevor man es merkt, gehen die Menschen im Volk aufeinander los.
Wir finden, dass es Zeit ist, wieder einen Klassenstandpunkt einzunehmen. Es wäre absurd, die working class den Anhänger*innen von Trump, Bolsonaro, Vox oder anderen rechtsextreme Rattenfängern von Hameln zu überlassen. Ja, wir kämpfen gegen Rassismus, gegen Sexismus, und wir verurteilen jede Form von Ausgrenzung. Aber wir tun dies immer mit dem Ziel, die Streitkraft und die Einheit der Arbeiterklasse zu stärken. Eine gespaltene Arbeiterklasse kann nicht gewinnen. Sie konnte es in der Vergangenheit nicht, und sie kann es heute nicht.
Für uns spielt nicht nur die Arbeiterklasse eine zentrale Rolle. Es gibt auch die Jugend. Leben bedeutet altern, das ist ein Naturgesetz. Doch gleichzeitig darf eure Organisation, eure Partei, eure Gewerkschaft oder eure soziale Bewegung nicht altern. Dafür muss man sich einsetzen.
Die Jugend trägt die Zukunft in sich. Die Jugend wird noch nicht von Gewohnheiten und Routinen oder vom Ballast der Vergangenheit gebremst. Die Begeisterung der Jugend wirkt befreiend und ist Quelle von Engagement und Protest. Junge Menschen sind noch nicht fest familiär gebunden. Sie haben den Mut und die Zuversicht, Starres in Bewegung zu setzen. Es ist kein Zufall, dass die Jugend in den Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Rolle gespielt hat. Denken Sie an die Revolution auf Kuba, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, den Kampf gegen den Kolonialismus, die Antikriegsbewegung im Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung, den Mai 1968, Occupy Wall Street, Black Lives Matter, Fridays for Future …
Wir brauchen die Jugend, um von ihr zu lernen. Von ihrer Energie, ihrer Begeisterung und ihren Organisations- und Kommunikationstechniken. Heute befinden wir uns mitten in der vierten industriellen Welle. Künstliche Intelligenz, dynamische Netzwerke, allgegenwärtige Robotisierung usw. In den zehntausend Jahren technischer Entwicklung seit der Agrarrevolution haben die älteren Generationen ihr Wissen und ihre Erfahrungen geduldig an die Jugend weitergegeben. Doch die Lehren von heute sind in 20 Jahren oft schon überholt. Alles verändert sich so schnell, Jugendliche bringen heute ihren Eltern die neuesten digitalen Techniken näher. So eine Situation hat es noch nie gegeben und sie schafft auch Frustration. Gleichzeitig steht die Jugend an vorderster Front in dieser turbulenten Entwicklung.
Schlusswort
Ich danke euch, dass ich heute zu euch über die Polykrise und die Herausforderungen für die Linke sprechen durfte. Auf diesem Planeten suchen viele Menschen nach einer gerechten, sozialen und ökologischen Antwort auf die Polykrise. Je mehr der Wille der verschiedenen Bewegungen wächst, ihre Vorstellungen von sozialem Fortschritt umzusetzen, desto heftiger stoßen sie an die Grenzen des kapitalistischen Systems. Wir glauben, dass der Sozialismus notwendig ist, um nachhaltige und tiefe soziale und ökologische Entfaltung zu ermöglichen. Der Sozialismus ist notwendig, um den Wandel dauerhaft zu verankern, um die Probleme der Menschen und der Umwelt zu Prioritäten zu machen, um diejenigen an die Schalthebel der Gesellschaft zu lassen, die den Reichtum erschaffen. Der Sozialismus 2.0 ist unsere Alternative für eine Welt, in der Menschen über Profite gehen, eine Welt, die menschliche Maßstäbe ansetzt und nicht Gewinnkalkül.